Über die Mundart

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''Literatur u. a.: „Hessisch“: Früher und später von Ernst Erich Metzner''
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Aktuelle Version vom 6. September 2011, 08:40 Uhr

"Gilt aber der verachtende Blick jener Sprachart, die nicht Schriftsprachart ist,
an sich, so ist er die lächerlichste aller Lächerlichkeiten;
denn was braucht es, um jede dieser Spracharten auch zur Schriftsprachart zu machen mehr,
als in ihr zu schreiben, zu dichten, zu predigen, zu philosophiren, und die Geringschätzung,
die sie traf – weil nur Rohe sie gebrauchten, dadurch zu aboliren (abzuschaffen),
daß sie auch der Zunge Gebildeter gewöhnlich wird."
(Johann Andreas Schmeller 1803)

Gegenwart und Vergangenheit der Mundart

Das Erscheinen von Hans Friebertshäusers "Das hessische Dialektbuch" 1987 in der Reihe der Dialektbücher des Beck-Verlags, und die Feststellungen des Bands beleuchten beispielhaft die hessische Szene der Gegenwart. Sie sind Ausdruck dafür, daß und wie das gesteigerte Engagement für die lebenden Mundarten im Land sich letztlich seit den antiautoritären Ansätzen von 1968/69 fast im gesamten deutschen Sprachraum feststellen läßt, natürlich längst auch die registrierende und interpretierende Wissenschaft auf den Plan gerufen hat. In ihrer populärwissenschaftlichen Variante ist die Wissenschaft nicht mehr nur Reflex der währenden Faszination, sondern auch ihr Multiplikator.

Es erscheint nicht als Zufall, daß "Das hessische Mundartbuch" in einem bayrischen Verlag erschien, und nicht zufällig fungieren dort ein bayrisches und ein fränkisches Dialektbuch als Vorreiter. Dahinter steht die weiter zu diskutierende höhere Geltung des Dialekts im süddeutschen Raum im weitesten Sinne, demgegenüber der Raum Frankfurt (oder Hessen allgemein) deutlich abfällt. So ist denn auch der 1785 geborene Bayer Johann Andreas Schmeller und nicht der genau gleichaltrige Hesse Jacob Grimm trotz seines prinzipiell gleichgerichteten Interesses der hauptsächliche Begründer einer wissenschaftlichen Dialektologie in Deutschland geworden.

Gründe für die ohrenfälligen Unterschiede, die eher größer als geringer werden, sind offensichtlich in der Geschichte zu suchen: Einerseits ist auf die staatlichen Sonderwege mit ihren zeitbedingten "Abgrenzungsneurosen" (Adolf Muschg, hinsichtlich der Schweiz) zu verweisen (Schweiz, Österreich, Luxemburg; Bayern) und auf die mundartfreundliche Katholizität vieler Regionen; andererseits ist eine eher zum hochsprachlichen Purismus neigende Haltung in protestantischen Ländern des mittleren und nördlichen Deutschlands zu bemerken, wo die Luthersprache als Dominante wirksam war. Für das Gebiet um Frankfurt und für Frankfurt selbst spielt sicher auch die alte nationale Tradition zusammen mit der Funktion als Zentrum des absatzorientierten Buchdrucks eine Rolle, von den Auswirkungen der modernen wirtschaftlichen Mittelpunktfunktion ganz zu schweigen.

Auch wenn die Wissenschaft vorgibt, die inzwischen symptomatischen Erscheinungsformen von Mundart und Mundartliteratur nur zu analysieren und zu registrieren: sie ist offensichtlich selbst Ausdruck derselben Interessenlage, die sich an politischen Gegebenheiten der Gegenwart orientiert. Das wird sichtbar an den modernen Gewichtungen altbekannter Mundartgrenzen, deren Aussagekraft relativiert wird, und an der Neubenennung der Mundarträume im Bundesland Hessen. So wundert nicht, wenn bei dem Fachwissenschaftler Friebertshäuser, ähnlich wie in der naiveren Mundartdichtung und in der alltäglichen Umgangssprache der Terminus "Hessisch", der sich ja vom Namen des keineswegs aufgrund von Mundartscheiden begrenzten Bundeslands Hessen herleitet (und sicher auch noch die abgetrennte Provinz namens Rheinhessen im Blick hat), deutlich an Boden gewinnt.

Das wird ersichtlich, wenn man die älteren Gliederungsvorschläge Ferdinand Wredes und danach Peter Wiesingers und jetzt Hans Friebertshäusers vergleicht: Seine Varianten Niederhessisch (um Kassel), Osthessisch (um Fulda), Mittelhessisch (um Marburg und Gießen) und Südhessisch (um Frankfurt und Darmstadt, aber auch um Wiesbaden/Mainz) füllen fast das gesamte heutige hessische Staatsgebiet aus, bis auf den niederdeutschen nördlichen Rand. Deutlich wird, daß der durch eine aktuelle politische Grenze aufgeteilte südhessische Raum (mit dem angrenzenden rheinland-pfälzischen Rheinhessen um Mainz), dessen Zusammengehörigkeit durch den modernen Begriff Rhein-Main-Gebiet manifestiert und dessen mundartlichen Gemeinsamkeiten bis heute immer deutlicher ins Bewußtsein treten, als das Gebiet des eigentlichen Hessischen erscheint, nicht zuletzt wegen der Landeshauptstadt Wiesbaden und des Medienzentrums Frankfurt. Diese Regionalsprache des "Neuhessischen" läßt leicht vergessen, daß der Begriff "hessisch" historisch ursprünglich nur dem "alt-hessischen" Raum an Eder und Fulda zukam und die bestimmenden sprachlichen Kräfte des Rhein-Main-Gebiets in der Völkerwanderungszeit und noch vorher, dann im frühen und hohen Mittelalter sicher nicht zureichend als hessisch bezeichnet werden können. Chatten, Alemannen, Franken sind da viel eher zu nennen, und so faßte denn der alte Terminus "Rheinfränkisch" in der älteren Dialektologie unter anderen Aspekten zusammen.

Die Beschäftigung mit lebender Mundart und Mundartdichtung stellt nur die zeitgemäße Fortführung und Wiederaufnahme von Ansätzen der älteren Germanistik in der Nachfolge vor allem auch des Hessen Jacob Grimm dar, des Begründers der "Germanistik" als der Wissenschaft von den germanischen Sprachen und Dialekten. Er hatte sich - in Verschränkung sprach- und literaturhistorischer Fragestellungen - die genetische Erklärung stammesgebundener und nationaler Mentalitäten, vor allem der germanischen bzw. deutschen Stämme und Völker, mit Hilfe der Sprache und Sprachgeschichte zum Ziel gesetzt. Neben dem Nachweis der sprachlichen Beziehungen zwischen den einzelnen verwandten oder benachbarten Völkern der Geschichte und Vorgeschichte räumte er der Reflexion über die Ausdifferenzierung der einzelnen Sprachen, vor allem des Hochdeutschen, und der einzelnen Dialekte breiten Raum ein, etwa in der nicht zufällig gerade im Revolutionsjahr 1848 erschienenen "Geschichte der deutschen Sprache".

In der Vorrede des eminent politisch gemeinten Buchs, in dem er seinen Drang, "von den wörtern zu den sachen" zu gelangen (und damit auch zur politischen Sache des deutschen Nationalismus und seinen föderalistischen Strukturen resümierend bekundet, fordert er so "die aufnahme aller mundarten und dialecte in den kreis der untersuchung", in die aber "auch die sprachen der uns benachbarten und urverwandten völker zugezogen werden" sollten. Erst dann tue sich "eine rechte perspective" auf: gemeint ist eine auf die Gegenwart.

Mundartforschung ist nach alledem unabweislich gezwungen, auch über die etwaigen Zusammenhänge zwischen sprachlichen Abgrenzungsvorgängen und politischer Gruppenbildung im germanischen Altertum, in der Völkerwanderungszeit, im Mittelalter und in der Neuzeit zu reflektieren und zugleich das Faktum zureichend zu beachten, daß fast von Anfang der schriftlichen Überlieferung an - seit 786 in der Zeit Karls des Großen - der übergeordnete Begriff "Deutsch" (latinisiert "theodiscus" o. a.) begegnet. So kommt dem Altgermanisten des Phänomen der deutschen Nationsbildung (mit ihren Anfängen sicherlich schon im Frühmittelalter) und der anschließenden Hochsprachentwicklung seit dem Hochmittelalter gleichermaßen in den Blick wie die Genese der historischen Mundarten vor dem Hintergrund der germanisch-deutschen Stammesgeschichte und der territoralen Historie der Folgezeit. Hinter dem Einbezug der historischen Perspektive steht die Überzeugung, daß historische Gegebenheiten, Einschnitte, Krisenzeiten und Entwicklungen, die die Mentalität der betroffenen Gruppen nachhaltig beeinflussen, wesentlich sind nicht nur bei der Herausbildung, sondern auch bei der Veränderung sowohl der Mundart als auch der Mundartgeltung, und also letztlich auch hinsichtlich der Mundartverwendung in der Literatur bis in die unmittelbare Vergangenheit, die wir besser überschauen und schneller beurteilen können.

Geschichte und Gegenwart der Mundartdichtung

Revolutionäre Zeiten waren auch später noch geeignet, rhein-mainische Mundartdichtung von Rang, ja mit erstaunlicher Resonanz in ganz Deutschland, hervorzurufen. Der Bedrohung durch Kapital und Fremdherrschaft im Rheinland antwortete u.a. Carl Zuckmayers "Schinderhannes" (1927), der Bedrohung des Volks durch eine als fremd empfundene, hochdeutsch verlogene Kaste "Der fröhliche Weinberg" (1925); von beiden Volksstücken laufen deutliche Linien zurück zu Gerhart Hauptmanns naturalistischer Mundartdramatik.

Mundartdichtung kann sich, wenn sie politisch ist, eigentlich nur ein föderalistisches oder anarchisches Zusammenleben denken - ein zentralistischer Staat wie der nationalsozialistische mußte darum letztlich mundartfeindlich sein oder Mundartdichtung nur als Ausdruck ländlicher archaischer Ressentiments gegen den modernen städtischen und industriellen "Ungeist" akzeptieren, so wie sie es schon lange vor dem Nationalsozialismus weithin gewesen war.

Kein Wunder, daß nach 1945, nach dem Erlebnis der weitgehenden Verführbarkeit der "Menschen" wie der "Leute" und damit auch der Mundartsprecher, der bis heute weiterlebende romantisch-volksfreundliche Impetus der Mundartliteratur zunächst zu Kompromißformen eines zugleich vorsichtig rehabilitierenden und aufklärenden Textens fand - so etwa in der Schöpfung der "Familie Hesselbach". Bald darauf ist die Mundartdichtung zusammen mit der Mundart scheinbar endgültig ins Abseits geraten, zumindest in den größeren Metropolen, wozu nicht zuletzt die modernen Massenmedien beitrugen. Mindestens in internationalen Zentren wie Frankfurt wurde so weithin, wie es scheinen konnte, der "Volksmund gestopft", und in kabarettistischer, aber doch symptomatischer Nachkriegs-Verzeichnung feiert man da noch heute das angebliche Ende wirklicher Mundart als "die Zerstörung des Völkischen" (Matthias Beltz: "Hesselbach hat ausgelacht"). Nur in Randbezirken und Enklaven, etwa bei der "Määnzer Fassenacht", spielte die Mundart zeitweise noch eine bemerkenswerte, wenn auch längst kritisch beleuchtete Rolle.

Wo Mundartdichtung trotzdem neu einsetzte, nach einzelnen Anfängen deutlich 1968/69 und in den siebziger Jahren, geschah es im wesentlichen im Rückgriff auf auswärtige großstädtische Vorbilder, vor allem auf die Wiener Mundart-Moderne; es geschah mit Betonung großstädtischer, ja bohemienhafter Gestik und mit allfälliger Kritik nicht zuletzt auch an der moralischen und ideologischen "Zuruckgebliebenheit" (Martin Walser) des mundartsprechenden Volks selbst

Daneben ist die Wandlung der wieder auflebenden Mundartdichtung ebenfalls im ländlichen Raum zu konstatieren, der aber inzwischen längst einer tiefgreifenden Umgestaltung anheimgefallen war. So wird in ihm neben der nostalgischen Klage zunehmend auch aggressivere Kritik an den Mächten der Moderne hörbar, an denen das Land ähnlich wie die Stadt leidet, vernehmbar bis in die Strophen moderner Mundart-Liedermacher hinein. Darin ist sicher direkter oder indirekter Einfluß der modernen städtischen Mundartdichtung zu erkennen, die durch ihre bloße Existenz den drohenden Eindruck relativierte, der mundartsprechende "Hinterwäldler" werde unausweichlich zur Anpassung an die einheitliche Sprache der großstädtischen Mittelpunkte und des multinationalen Establishments gezwungen. Insofern erscheint die traditionelle Frontstellung der modernen großstädtischen Dialektliteraten gegenüber den provinziellen bzw. ländlichen mehr und mehr spiegelfechterisch: Die einen leiden wie die anderen an dem, was sie gleichzeitig doch lieben müssen, von Kind an.

Manchmal geschieht es denn auch, daß die grundsätzliche Gemeinschaft gesehen wird, etwa von Kurt Sigel im Nachwort zu seinen jüngsten "Geifer-, Gift- und Suddelversen" (1989), wo er die Mundart des Gebiets fast nur noch als "Reservat für wenige Literaten, romantische Eigenbrötler, Heimatschützer und konservative Sprachpfleger" sieht, die die "schöne Leiche mit Hingabe schminken und in die Vitrine legen". Aber steht in der Überschrift "Dialekt - schon bald mundtot?" nicht doch ein Fragezeichen, vor der Statuierung des Endes im Text? Und hofft Sigel nicht, durch "unbescheidene", aber durchaus bedenkenswerte und jedenfalls konsequente "Empfehlungen" zu erreichen, daß künftig die Mundart oder die dialektgefärbte großstädtische Umgangssprache "in ihrem Stellenwert gleichberechtigt neben die Hochsprache" zu stehen kommt?

Ehe das geschieht, müsste sich freilich ihm zufolge viel ändern: Unterricht im Dialekt, Dialektausbildung der Lehrer, Dialektsendungen in Rundfunk und Fernsehen, Dialekt in den Zeitungen, ähnlich wie in der Schweiz. Aber das Rhein-Main-Gebiet oder Frankfurt oder Wiesbaden oder Darmstadt sind nicht politische Einheiten wie die kleine Schweiz, die die Mundart zur Abgrenzung gegen ein fremdgewordenes großes staatliches Gebilde (ge)braucht, und vor allem haben wir im Lande die aufklärerische Obsession, die noch liberal! hinter der Mundart die auszumerzende Heimattümelei, ja das Völkische vermutet. Und so denn auch gleich ein "fortschrittlicher" Rezensent zu Sigels Vorschlägen: "Da set Gott vor!".

Also doch nichts mit der Inthronisation des multikulturellen Menschen in unserem Raum, welche die Einsichtigen erhoffen, indem sie auch den provinziellen Mundartgebrauch aufgewertet wissen wollen (Th. Schmid, 1989)? Also doch nichts mit der sich ankündigenden "Wiederentdeckung des Selbstverständlichen" (M. Spranger, 1977), das so selbstverständlich doch nicht mehr scheint?


Ernst Erich Metzner

Literatur u. a.: „Hessisch“: Früher und später von Ernst Erich Metzner

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